Auftrieb
für Hohlköpfe
"Fünf
Minuten vor der Wissensgesellschaft drehen wir
die Uhren zurück. Das Bildungssystem versucht, Wissen und Kreativität
zu industria- lisieren. Das schafft jede Menge Auftrieb für Hohlköpfe."
So beginnt
in der Ausgabe 05/2008 des Wirtschaftsmagazin "brand
eins" ein Text mit der
Überschrift "Die Stunde der Idioten". Der
Artikel könnte auch heute geschrieben worden sein. Denn geändert hat
sich an der Lage nichts. Warum sollte sich auch? Der Bildungsdampfer
schlingert wie eh und je über seichte Gewässer, in die er seine
mageren Ergebnisse entsorgt.
Mit den
Betrachtungen über unsere Bildung befinden wir uns
an einem ganz wesentlichen Knackpunkt. Warum hat nicht jeder den Betrag
in der Tasche oder auf dem Konto, der genau seinen Vorstellungen
entspricht? Ganz offensichtlich gibt unser Bildungssystem darauf keine
Antwort. Wenn das Ergebnis in allen Bereichen so dürftig wäre, sähe
unserer Dasein etwas trüber aus.
Wenn niemand
gelernt hätte, wie der Blinddarm entfernt
oder ein Zahn gezogen wird, gäbe es noch mehr unglückliche
Gesichter auf der Welt. Auf die langersehnten eignenen vier Wände
könnten wir lange warten, wenn dem Maurer nicht beigebracht worden
wäre, wie ein Stein auf dem anderen bleibt. Dabei keimt der Verdacht
auf, dass wir eher beigebracht bekommen, wie wir unser Geld möglichst
schnell wieder loswerden.
Gleichzeitig lernen
wir, dass wir immer wieder schwer
ranklotzen müssen, wenn wir regelmäßig auf Shoppingtour gehen wollen.
Wie mehr bei uns hängen bleibt, steht nicht im Lehrplan. "Ohne Fleiß
kein Preis" lautet die spartanische Botschaft.
Lesen wir uns
auszugsweise bei "brand eins" weiter ins
Thema ein. Bei den "KlickTipps" finden Sie
einen Link zum kompletten Text.
Zuvor noch einmal
zur Antwort auf die legitime Frage, ob
das alles zur bescheidenen Verbesserung der Vermögenslage um 199.000
Euro in 500 Tagen notwendig ist. Knappe Antwort: ist es.
Erstens, die
Hunderneunundneunzig Tausend sind ja nicht
die Endstation sondern der Ausgangspunkt. Eine erste Stufe oder
Lektion, wenn Sie so wollen.
Zweitens, dies
ist kein "Schnell reich werden Programm",
wie es an jeder Ecke angeboten wird. Wir sollten ganz genau wissen, in
welchem Millieu wir uns bewegen. Ob etwas in unserem Sinne klappt,
Probleme aufwirft oder zu scheitern droht, hängt eng damit zusammen,
was in unseren Köpfen drin ist und vor allem aber auch damit, was noch
hinein kommt.
Uns und unsere
mentale Versorgung mögen wir schnell in den
Griff bekommen. Das
Problem oder die Herausforderung besteht
allerdings darin, dass wir bei unserem konkreten Anliegen, ebenso wie
bei den
meisten anderen auch, auf andere Menschen angewiesen sind. Irgendwoher
muss das Geld ja kommen. Da ist es schon ein entscheidender Vorteil,
wenn wir wissen, wie die ticken.
Regierungen und
Banken haben es da einfacher. Die können
ihr Geld einfach drucken, wenn bei uns nicht mehr rauszuholen ist.
Nun
aber weiter im Text (Originalzitate
aus "brand eins" 05/2008):
1. Der Zweck der Bildung
Ja,
hätten wir was Anständiges gelernt, wir könnten den Deckel
draufmachen
und uns über etwas Lustiges unterhalten. Aber das geht leider nicht,
nicht nur wegen Pisa-Studie und OECD-Daueralarm in Sachen Bildung,
sondern auch, weil die Frage nicht geklärt ist, was Bildung eigentlich
bringen soll. Womit verplempern wir mindestens ein Fünftel unserer
Lebenszeit? Ist all das umsonst?
...
ist nicht überall Informations- und
Bildungsballast? Wie
soll man da
nicht untergehen? Ganz einfach: Das Gesetz des statischen Auftriebs
lehrt uns nämlich auch, dass ein Körper, dessen spezifisches Gewicht
größer ist als das von Wasser, nicht schwimmen kann, wohingegen ein
Körper, der einen ausreichend großen Hohlraum bildet, oben bleibt.
Hohlraum merken wir uns jetzt. Der Hohlraum hält
über
Wasser. Der oder
das Hohle schwimmt oben. So etwas passiert nicht von allein. Man muss
jahrelang Dinge in seinen Hohlraum füllen, die leicht genug sind,
beispielsweise gasförmige Stoffe wie etwa heiße Luft. Die ist leicht
herzustellen und kostet nicht viel. Die Herstellung dieser heißen Luft
ist die Aufgabe des Bildungssystems. Es trägt Hohlköpfe nach oben. Es
sorgt dafür, dass Hohlköpfe Auftrieb bekommen.
2. Warum wir immer blöder werden (und wozu)
Mit heißer Luft geht's ganz nach oben. Auftrieb
und
Bildung - das
beschäftigt Denker seit Langem. Der gute alte Theodor W. Adorno etwa
hat vor mehr als 50 Jahren ein Buch mit dem schönen Titel "Theorie der
Halbbildung" geschrieben. Man kann das Werk grob so zusammenfassen: In
der Industriegesellschaft steigen viele auf, und zwar durch Ausbildung,
die einen ganz bestimmten Zweck erfüllt. Bildung und Ausbildung, das
wird bis heute hartnäckig verwechselt. Was aber ist, wenn der gut
Ausgebildete, der Aufsteiger, sich nun auch sozial bewähren muss? Man
ist Experte. Aber ist man auch gesellschaftsfähig? Halbbildung ist nun
das, was Adorno bei den meisten dieser neuen Klasse feststellt: eine
Zusatzausstattung, die zum Fachwissen dazukommt. Ein Fachidiot mit
etwas Bildung also, genauer gesagt jemand, der den sogenannten
Bildungskanon beherrscht.
...
... fest steht nur, dass sich in Sachen Bildung immer die
einen
um
die anderen Sorgen machen. Es ist richtig, dass es eine soziale
Schieflage gibt. ...
... hilft nur eines: Man muss die Schulen vereinheitlichen, den
Stoff
anpassen, damit auch die mitkommen, die gar nicht mitkommen wollen.
Gerecht ist, wenn das Leistungsniveau nach unten geht - dann stimmen
auch wieder die Abiturzahlen.
...
Sind die sogenannten Doofen vielleicht gar nicht
so blöd? Haben sie
etwa längst durchschaut, dass mehr Schule nicht zwingend mehr Karriere,
Geld, Wohlstand, Ansehen und Glück bedeutet? Wer geht da der heißen
Luft auf den Leim? Wer ist der Hohlkopf?
3. Tote Hühner
Die Grundlage dessen, was wir an der Bildung
schätzen, ist
bereits ein
windschiefes Konstrukt. Vor fast genau 500 Jahren soll, genaue Quellen
gibt es nicht, der Londoner Politiker und Funktionär Francis Bacon,
Lordkanzler von König James I., den schönen Satz "Wissen ist Macht"
gesagt haben. Francis Bacon, 1561 geboren, wuchs in einem Milieu auf,
in dem man so was eigentlich nicht sagte.
Nach dem Vorbild der
hellenistischen Denker und Philosophen war Bildung ein Vehikel zur
gesellschaftlichen Bewährung, das den höheren Ständen und dem Klerus
vorbehalten war. Bildung, das war nichts Zweckmäßiges, das führte nicht
zu etwas hin, sondern war sozusagen nur für den Anwender
höchstpersönlich nützlich.
Seit der Antike hielt man es mit dieser
Betrachtungsweise von Bildung. Mit Bacon war damit Schluss. "Wissen ist
Macht" - das war für die Mächtigen ein ziemlich interessanter Satz. Im
17. Jahrhundert entstanden neue, zentrale Planungsregimes: Das, was wir
heute moderner Staat nennen, samt Verwaltung und Gesetzen, zeigte sich
immer deutlicher. Die Gesellschaft wurde planbar. In der Ökonomie wurde
der Nährboden für den Industriekapitalismus gelegt.
Wissen ist Macht -
das heißt vor allen Dingen auch eines: Wer Einfluss und die
Befehlsgewalt über andere haben wollte, musste sich zweckorientiertes
Wissen aneignen. Bildung war keine persönliche Sache mehr, ein
Werkzeug, mit dem man den Unwägbarkeiten des Lebens leichter begegnen
konnte, sondern ein konkreter, zielorientierter Zweck. Auf diesen einen
Bildungszweck musste man sich festlegen. Man musste ein Experte werden,
jemand, der sich auf eine Sache konzentriert.
Das kann ins Auge gehen. Sir Francis Bacon
beispielsweise
starb gut
drei Jahrzehnte nach seinem legendären Satz beim Versuch, tote Hühner
durch Ausstopfen mit Schnee haltbar zu machen, an einer
Lungenentzündung. Rein zweckorientiertes Handeln ohne Wenn und Aber
fordert seinen Preis. Einerseits ist es schon richtig, tote Hühner mit
Schnee auszustopfen, um sie länger frisch zu halten. Andererseits
sollte man sich dazu warm anziehen und ab und zu mal etwas Heißes
trinken. Wer sich nur auf eines konzentriert, weil sein Plan so toll
ist, kann sich leicht verkühlen.
4. Die Wiederkehr des alten Fritz
...
... aus Universitäten Bildungsfabriken, in denen mit hoher
Fertigungspräzision Hohlköpfe hergestellt werden. Nun werden
Hochschulen das, was Schulen längst sind. Die Welt verdankt die Schule
als Abrichtanstalt dem famosen Preußenkönig Friedrich I I., angeblich
ein Großer, der im 18. Jahrhundert die Grundlagen für eine Schule
schuf, in der ein strikter Plan und ein einheitliches Bildungsziel
festgelegt wurden. Die Förderung der Gleichförmigkeit des Wissens steht
über der Förderung von Talenten. Das System wurde ein großer
Exportschlager.
Der amerikanische Pädagoge John Taylor Gatto hat
die Gründe für den
Siegeszug dieses Modells im Industrialismus so beschrieben: Das System
ziele darauf ab, "mittelmäßige Geistesschärfe zu produzieren, um das
innere Leben zu verkrüppeln, um den Schülern nennenswerte Führungs-
qualitäten zu verweigern und um fügsame und unvollendete Bürger zu
garantieren", kurz und gut, "um das gemeine Volk , kontrollierbar' zu
machen". Man kann sich bis heute im Land überall davon überzeugen, wie
erfolgreich das System war und ist.
...
Im Sinne guter industrialistischer Denkart ist das
Schlimmste, was
passieren kann, dass eine Menge halbwegs gedrillter Arbeitskräfte -
unter denen man wählen kann und die sich leicht ihren Preis diktieren
lassen - zur Verfügung stehen. Das Spiel kennen wir bereits. In diesem
Spiel gibt es klare Regeln, selbstständig denkende und handelnde
Menschen dürfen nicht mitspielen. Wissen ist Macht. Von Freiheit,
Fortschritt, Qualität war nicht die Rede.
...
5. Bildung und Beweglichkeit
Das also soll in die Wissensgesellschaft führen?
Preußischer
Gleichheitswahn, Maschinendenken? Dabei wäre Preußen gar keine
schlechte Wahl, vorausgesetzt, man nimmt den richtigen Preußen.
Da
hätten wir einen Vorschlag. Fast 200 Jahre lang hat das deutsche
Bildungssystem einerseits brutal abgerichtet und fehlgebildet,
Fachidioten und feige Untertanen produziert, aber auch, und eben an den
Universitäten, ein Ideal gepflegt, das mit Bologna nichts zu tun hat.
Dieses Ideal soll dem Menschen ein Leben lang nützen. Es folgt nicht
dem Aberglauben, dass sich ein Menschenleben so planen lässt wie das
Fertigen von Halbschuhen oder Tütensuppen. Bildung ohne ein Ziel,
sondern Allgemeinbildung, eine Art Allradantrieb für die Pisten des
Lebens.
Das klingt schon eher nach Wissensgesellschaft, in
der
schnelle
und kluge Entscheidungen gebraucht werden, Entscheidungen, die
originell sind und passgenau statt vorkonfektioniert und von jedem
Deppen reproduzierbar.
All das bietet das Bildungsideal Wilhelm von
Humboldts.
Man muss diese
nützliche Sache heute verteidigen, man muss tatsächlich und
ausgerechnet beim Eintritt in die Wissensgesellschaft die Formel
rechtfertigen, die sie ermöglicht. So bizarr ist die Gegenwart.
...
Das Humboldt'sche Bildungsideal ... was wir heute
Lernen
fürs Lernen
und Lernen fürs Leben nennen würden. ...
Es macht beweglich, statt Einbahnstraßen lernt der
Schüler, mit
Kreuzungen und Kurven umzugehen. Allgemeinbildung, das steckt dahinter,
ist etwas anderes als ein normierter Bildungskanon. Es ist das, was
moderne Betriebswirte als "Management der Unsicherheit" bezeichnen.
Menschen, die sich nicht von Veränderungen umhauen lassen oder - im
Fall eines unvorhergesehenen Straßenverlaufs - blöd an der Kreuzung
stehen, ohne zu wissen, wo es langgeht.
...
6. Bildungsinzest
...
... Bildung ist das Mittel, mit dem Vorurteile,
Diskriminierungen,
Arbeitslosigkeit, Hunger, Aids, Inhumanität und Völkermord verhindert,
die Herausforderungen der Zukunft bewältigt und nebenbei auch noch
Kinder glücklich gemacht werden sollen. Gerade weil das alles nicht
geht, wurde und wird in kaum einem anderen Bereich so viel gelogen wie
in der Bildungspolitik."
Wie immer, wenn heute öffentlich gelogen wird,
üben sich die Lügner dabei mit Statistiken, Zahlen, Vergleichen und
Studien in Selbstbetrug. Davon lassen sich die meisten Leute
einschüchtern. Immer noch funktioniert der Trick mit dem Wundermittel
Bildung, das sozialen Aufstieg und Wohlstand quasi als Nebeneffekt
produziert - und zwar in der verunsicherten Mittelschicht, in der sich
jede Debatte im Land abspielt. ...
Die eigentlichen Dummen sind die, die das noch
nicht
gelernt haben. Es
ist das Heer des Durchschnitts, für die derlei mechanistische
Weltbilder wie geschaffen sind. Sie brauchen solche Illusionen.
Bachelor, Master, Punktesystem ...
7. Schein-Bildung
Wer aufhört zu verstehen, ist eigentlich schon am
Ende.
Nun gilt das
aber, nach 200 Jahren Bildungsdrama auf deutschem Boden, nicht allein
für jene, die im Durchschnitt und in der Wissensnorm ihr Heil suchen.
Sondern auch für die, die meinen, man müsse nur die Traditionen recht
gut bewahren. Welche denn? Die Tradition der Persilscheine? Zeugnisse,
die etwas über die Fähigkeiten eines Menschen aussagen - und zwar ein
Leben lang? So etwas führt zu dem, was wir in Deutschland lieben:
Schein-Bildung. ...
(Ende
der Zitate aus dem Wirtschaftsmagazin "brand eins" 05/2008,
Gliederung
durch den Autor dieser Seite)
Sollte sich künftig
im
Zusammenhang mit Bildungsdiskussionen und Bildungspolitik ein leichtes
Unwohlsein bemerkmar machen, wäre dies durchaus verständlich. Wie sagt
doch der mit dem Titel "New Yorker Lehrer des Jahres" dekorierte
Pädagoge John
Taylor Gatto:
Das System zielt darauf ab,
"mittelmäßige Geistesschärfe zu produzieren, um das innere Leben zu
verkrüppeln, um den Schülern nennenswerte Führungsqualitäten zu
verweigern und um fügsame und unvollendete Bürger zu garantieren"
Mit
der
Schul- und Bildungsbürokratie werden wir uns nicht anlegen und
unsere
Zeit verplempern. Aber unser eigenes Bildungssüppchen zu kochen, das
kann uns niemand verwehren.
Dabei
nehmen wir eines gleich zu Anfang zur Kenntnis.
Durch das Schul und Bildungssystem sind ALLE durchgeschleust worden.
Das erklärt uns immer wieder die Zwiespältigkeit, die wir insbesondere
im medialen Bereich erkennen. Leute deren persönliches Engagement wir
zum Beispiel als Autoren sehr schätzen, können in ihrer Rolle als
Funktionsträger einer Zeitung oder eines Fernsehsenders durchaus
grandios daneben liegen.
Ähnliche
Erfahrung hat wohl auch der Journalist und
Pulitzer-Preisträger Upton Sinclair
gemacht:
"Es ist
schwierig, einem Menschen etwas begreiflich zu machen, wenn sein Gehalt
darauf beruht, es nicht zu begreifen."
(Zitiert nach Dan Ariely in "Denken
hilft zwar, nützt aber nichts".)
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