Berliner
Rede zur Freiheit am Brandenburger Tor
24 . April 2013 in Berlin
Gabor
Steingart
Unsere
Marktwirtschaft und ihre Feinde
Sehr geehrte Damen, sehr
geehrte Herren,
ich muss mit einer Warnung
beginnen.
Alle, die sich an den Spielarten eines politischen
Fatalismus
erfreuen oder der Sehnsucht nach ökonomischer Apokalypse verfallen
sind, werden hier nicht auf ihre Kosten kommen. Mit Bedacht haben wir
uns heute am Fuße des Brandenburger Tor eingefunden, dem Symbol einer
gesamtdeutsch erfüllten Hoffnung auf Freiheit, und haben uns nicht im
Grandhotel Abgrund einquartiert, wo Teile unserer kulturellen und
publizistischen Eliten offenbar die Beletage angemietet haben.
Aber Deutschland schafft sich nicht ab. Europa bimmelt nicht das
Totenglöckchen. Und auch die Spieltheoretiker des Kalten Krieges und
die Algorithmen der Computer, um nur zwei jüngere Angstfantasien
abzurufen, können uns nicht aus der Bahn werfen. Es geht in dem, was
ich zu sagen habe, um Realismus, nicht um Pessimismus. Unbequem wird es
dennoch, aber eben nicht aussichtslos.
Wer die Freiheit
liebt, ist Optimist. »Die Geschichte selbst hat weder ein Ziel noch
einen Sinn«, ruft uns Karl Popper in »Die Offene Gesellschaft und ihre
Feinde« zu. Aber, fügte er in tröstender Absicht hinzu: Wir
können uns
entschließen, ihr beides zu verleihen. Genau darum bemühen sich ja die
hier versammelten, jeder an seiner Stelle. Der Freiheitsliebende ist
nie alternativlos. Wenn er gerade keine Alternative zur Hand hat, dann
sucht er eben eine. Er glaubt an das bessere Leben, nicht als göttliche
Fügung oder vom Staat herbeizuführenden Zustand, sondern als Aufgabe
für ihn selbst, er sucht mit, er wirkt mit.
Freiheit ist
ein Mit-Machprogramm. Auch wenn Mitmachen zuweilen Streiten,
Dagegenhalten, Kämpfen - und in Ihrem Fall - heute Abend zunächst
einmal Zuhören bedeutet. Meine Damen und Herren, der Freiheitsliebende
ist zwar Optimist, aber er ist nicht naiv. Er hat natürliche Feinde und
zwar mehr als wir Finger an der Hand haben. Über diese Feinde wird hier
und heute zu reden sein.
Diese Feinde sind weit
vorgedrungen. Sie haben sich gut getarnt. Und das Verblüffende ist: Sie
sehen aus wie unsere Freunde. Sie tragen Maßanzug und Kostüm, sie
wissen guten vom teuren Wein zu unterscheiden, sie sind freundlich
gegenüber Europa und gegenüber Ausländern, sie preisen das Grundgesetz
und die Demokratie so routiniert wie der Papst seinen Herrn.
Die Idee, dass sie sich als Umstürzler einer bewährten Ordnung
betätigen, ist ihnen in all ihrer Geschäftigkeit noch gar nicht
gekommen. Wie soll diese Spezies, von der hier die Rede ist, auch zur
Besinnung kommen können. Sie hat ja keine Zeit. Sie muss ja dauernd
retten: Bankenrettung, Eurorettung, Staatenrettung. Das professionelle
Retter Trio aus Regierungspolitikern, Bankchefs und
Notenbankpräsidenten weiß in diesen Tagen gar nicht wo es zuerst retten
soll.
Wenn die Krise ein
Fabelwesen wäre, würde sie
Hydra heißen. Kaum schlägt man ihr einen Kopf ab, wachsen zwei neue
nach: Lehman Brothers fällt, da erschreckt uns der Niedergang von Hypo
Real-Estate, Areal Bank, IKB und Commerzbank, kaum ist Griechenland
gerettet, drohen Portugal, Irland, Spanien abzusaufen, wer Zypern sagt,
muss auch Malta sagen, wenn Frankreich wackelt, was wird dann aus
Italien?
Und schon sieht man wie
der Hydra im Nebel des Zukünftigen neue,
große Köpfe wachsen, die schemenhaft erst zu erkennen sind. Sie sehen
von weitem wie die Schuldenstaaten Japan und die USA. Der moderne
Herakles trägt kein Keule unterm Arm, sondern eine Geldbombe, die er in
immer kürzer werden Abständen zündet.
Der Herakles unserer Zeit
trägt dabei nicht Lendenschurz oder
griechisches Gewand, sondern Hosenanzug. Er sieht dann aus wie unsere
Kanzlerin. Manchmal blitzt auch ein Einstecktuch, dann erkennen wir
unschwer Mario Draghi. Der versteht sein Geschäft. Der hat bei Goldman
Sachs gelernt. Er weiß, wie man Geldbomben zündet. Und als
Helfershelfer sehen wir die zwei siamesischen Brüder von der Deutschen
Bank, die sich gegenseitig liebevoll Anshu und Jürgen rufen. Sie sehen
zwar aus als hätten sie was ausgefressen, aber vielleicht genau deshalb
wollen sie sich beim Retten und Löschen und Köpfe-Abhauen von niemandem
übertreffen lassen.
Früher hieß das Reue und
Sühne, heute Kulturwandel. In Wahrheit
aber greift diese Allianz von Regierungspolitikern,
Notenbankgouverneuren und Mitgliedern der Hochfinanz, die Grundlagen
unseres Wohlstandes an. Es ist der friedlichste Angriff der
Weltgeschichte, ein Angriff ohne Angriffsplan, eine Verschwörung ohne
Verschwörungstheorie mit dem nie verabredeten, aber gleichwohl
konsequent verfolgten Ziel, unseren Wohlstand, der ein »Wohlstand für
alle« sein sollte, zu schmälern und die Marktwirtschaft in ihrer bisher
gültigen Form schwer zu beschädigen.
Beugen wir uns über die
bisherige Schadensbilanz. Sie ist - je
nach Standpunkt - beeindruckend oder erschreckend. Die Marktwirtschaft
ist, das kann man ohne Übertreibung sagen, nicht mehr die alte. Ein
wirtschaftlicher Hybrid erblickte das Licht der Welt, der die
Artengrenze von Staat und Privatwirtschaft übersprungen hat. Eine
Bastardökonomie bildete sich heraus, die in der klassischen
Volkswirt- schaftslehre so nicht vorgesehen war.
Dieser staatlich-
finanzielle Komplex führt heute ein Leben zu
Lasten Dritter. Gewissheiten, die wir für ewig hielten, wurden
suspendiert.
1. Der Staat ist für
die Schwachen da, hieß es einmal. Für die,
die gestrauchelt sind, die die krank sind, die Alten und
Minderbemittelten. Heute können wir Peter Sloterdijk kaum
widersprechen, der nach serieller Bankenrettung feststellt: »Der Staat
bietet Sozialismus für die Großen«. Es findet eine Umverteilung von der
Mitte der Gesellschaft zu ihrer Spitze statt. Früher hat sich
der
Bürger eine Bankbürgschaft besorgt, wenn er eine Investition tätigte
oder eine Immobilie anmietete. Heute bürgt der Bürger für seine Bank.
Es kam zur Umkehrung der Verhältnisse. Wir wurden - gegen unseren
Willen - zur Mutter Theresa für die Finanzindustrie. Wenn es im Vatikan
mit rechten Dingen zuginge, müsste der Papst den deutschen Steuerzahler
eigentlich selig sprechen.
2. Risiko und
Verantwortung sind untrennbar miteinander verbunden,
das sei das Wesen der Marktwirtschaft. So haben wir es gelernt. Heute
gibt es von Beamten geführte Listen, auf denen steht, welches Geldhaus
als »systemrelevant« gelten darf und damit freien Zugang zu den
Schatzkammern der Steuerzahler besitzt. Verantwortung und Risiko sind
entkoppelt – nicht für Falschparker, nicht für Ladendiebe und auch
nicht - liebe Bayern-Fans - für Steuerhinterzieher, aber für die
Hochfinanz.
3. Lohn und Leistung
gehören zusammen, so war das mal vorgesehen.
Das Spitzengehalt, der Bonus, die Prämie, ganz früher das Deputat, das
waren Auszeichnungen für Erfolge, die sich sehen lassen konnten. Doch
neuerdings werden auch Fehlleistungen belohnt, das Scheitern prämiert.
So erhielt ein einziger Händler der Deutschen Bank, Christian Bittar
sein Name, rund 80 Millionen. Das war mehr als die zehn Chef der
größten Autofirmen der Welt: VW, Daimler, General Motors, Ford, Toyota
und wie sie alle heißen. Oder doppelt so viel wie alle Staats- und
Regierungschefs der Welt zusammen pro Jahr verdienen. Niemand, nicht
einmal die Bankoberen, kein Jürgen Fittichen, kein Anshu Jain, können
einem heute erklären, wofür eigentlich diese obszöneren Gehälter
gezahlt wurden?
4. Die unabhängige
Notenbank garantiert die Stabilität des Geldes,
und sonst gar nichts. So steht es noch heute in den Statuten der
Europäischen Zentralbank. Doch die hält sich nicht mehr daran. Die
Finanzierung von Staaten durch Aufkäufe von ansonsten unverkäuflichen
Staatsanleihen und die Bereitstellung unbegrenzter Liquidität an
Geldhäuser mit Bilanzproblemen zählen zu den neuen
Selbstverständlichkeiten. Wer sich eine Restsensibilität seines Gehörs
bewahrt hat, hört wie nachts in Frankfurt die Gelddruckmaschinen
rattern.
5. Das
Budgetrecht, also das Recht, über Einnahmen und Ausgaben
des Staates zu befinden, liegt seit Bismarcks Zeiten beim Parlament.
Man nennt es das »Königsrecht der Abgeordneten«. Heute teilen sich die
Parlamentarier dieses Königsrecht mit dem in Luxemburg angesiedelten
Rettungsschirm ESM und diversen anderen Rettungsfazilitäten, die über
das Vielfache Kapital eines Staatshaushaltes verfügen. Wenn Europa ein
Staat wäre und die Aufnahme in die EU beantragen würde, müsste man
diese Aufnahme verweigern. Sagt selbst der Präsident des
Europaparlamentes. Mit den Staatsdefiziten wachsen die
Demokratiedefizite, hat der hell- und weitsichtige Ralf Dahrendorf
schon vor Jahrzehnten gesagt. Da dachten wir bei Griechenland noch an
Ouzo und Akropolis und nicht an Haircut und Drama.
Meine Damen und Herren,
das ist nicht mehr die Marktwirtschaft
die Ludwig Erhard schuf. Das ist nicht mehr der Rechtsstaat, vor dessen
Gesetzen alle gleich sind. Das ist nicht die Freiheit, die wir meinten.
Es soll Menschen geben, die haben Mühe, diesen Staat noch als den ihren
zu erkennen nachdem er Banker und Bürger so erkennbar unterschiedlich
behandelt.
Wenn Sie nicht den
Eintrag "systemrelevant" in ihrem
Personalausweis tragen, werden sie für ökonomisches Fehlverhalten mit
Konkurs bestraft. Wenn sie sich aber als "systemrelevant" ausweisen
können, fährt die Staatskarosse mit Koffern voller Bargeld vor.
Wenn Sie Staubsauger
oder Kühlschränke verkaufen, oder
Arzneimittel oder Lasagne im Tiefkühlregal dann haften sie für ein
fehlerhaftes Produkt.
Wenn sie
Bankprodukte verkaufen, die der Kundschaft um die Ohren fliegen, sind
sie frei gestellt.
Wenn sie Steuern
hinterziehen, sind sie dran. Wenn Sie beim
Steuern hinterziehen helfen - ich erinnere an den Werbespruch der
Luxemburger Tochtergesellschaft einer großen deutschen Bank: "Reisen
bildet. Zum Beispiel Kapital" - dann sitzen sie beim Staatsbankett in
der ersten Reihe.
All das verzehrt
Vertrauenskapital. Wir sollten das Empört-Sein
nicht an Linke, Grüne und berufstätige Moralapostel out-sourcen. Die
Freiheit, auch die Freiheit unserer Wirtschaftsordnung, wird nicht
durch Schweigen und Grummeln verteidigt. Wir sollten nicht fatalistisch
sein. Aber wir haben die Bürgerpflicht, ungehalten, unbequem und
unzufrieden, womöglich auch wütend, zu sein.
Oder um es mit John Stuart
Mill zu sagen: "Besser ein
unzufriedener Mensch, als ein zufriedenes Schwein." Zumal die
Unzufriedenheit der anderen, sich in die falsche Richtung austobt. Man
wirft der Marktwirtschaft Verfehlungen vor, die sie nicht zu
verantworten hat. Man kreidet ihr an, dass sie manipuliert wurde.
Die bildungsfernen
Schichten in den Handelssälen der
Investmentbanken werden fälschlicherweise in eins gesetzt mit dem
Unternehmer, der forscht, herstellt und verkauft. Marktversagen, heißt
es überall. »Die Linke hatte Recht«, rief kürzlich Charles Moore,
Biograf und Gefolgsmann von Maggie Thatcher. Viele stimmten ihm zu.
Überall im Westen werden wir Zeitzeugen, wie die einst innige Beziehung
der Bürger zu dem sie umgebenden Wohlstandssystem erodiert.
Abfällig
spricht man bereits von der »Marktdemokratie«, womit eine Demokratie
zweiter Klasse gemeint ist. Die Chancen, dass unsere Wohlstandsordnung
ihren inneren Verletzungen erliegt, sind nicht gering einzuschätzen.
Schon Wilhelm Röpke wusste, dass die Marktwirtschaft die
Voraussetzungen, die sie zum Leben braucht, nicht selbst hervorbringen
kann. Sie ist schutz-, pflege- und permanent korrektur- bedürftig.
Aus
Unverständnis über das wahre Wesen unserer Wirtschaftsordnung, aus Lust
an der Negation, aus dem natürlichen Hang vieler Intellektueller und
der Medien zum Katastrophismus, aus Bequemlichkeit und Wahrheitsscheu
kommt es zur Umdeutung der für ein Funktionieren der Marktwirtschaft
zentralen Kategorien. Leistungswille wird nun mit Gier übersetzt,
Erfolg mit Unbarmherzigkeit. Der Einsatz von Computerprogrammen bei der
Kundenakquise und im Hochfrequenz- handel der Börse wird ins
Monsterhafte
verzerrt. Ein Nebenkriegsschauplatz erlebt den Aufstieg zum medialen
Hauptgefechtsfeld.
Wie in Raserei
gehen Teile der Öffentlichkeit nicht
etwa auf die Täter, auf Schuldenpolitiker, Hochfinanz und willige
Notenbankpräsidenten los, sondern auf die Marktwirtschaft als
Institution.
Die große
Fortschrittsgeschichte der Sozialen
Marktwirtschaft wird umgeschrieben in eine Bedrohungssaga. Wir sollten
der Treibjagd auf die Marktwirtschaft Einhalt gebieten, und sei es für
die Dauer dieser Rede. Plädiert sei für ein Moratorium, für einen
zeitlich befristeten Empörungs- aufschub.
Denn so berechtigt der
Zorn
auch ist. Er sollte die Täter treffen, nicht das Opfer. Ich bin fest
davon überzeugt: Wer unklar redet, denkt unklar. Wem schon die Worte
durcheinander geraten, der bekommt auch die Gedanken nicht richtig zu
packen. Konkret gesprochen: Kapitalismus und Marktwirtschaft sind nicht
dasselbe. Wer sie gleichsetzt, will herabsetzen. Marktwirtschaft und
Kapitalismus sind sogar höchst verschieden, stehen zueinander in einem
ähnlichen Verwandt- schaftsverhältnis wie der Haushund zum Wolf.
Der Wolf
– canis lupus – ist das ewige Raubtier. Der Mensch und er sind, kaum
dass man einander zu nahe kommt, Rivalen im Kampf um Lebensraum und
Nahrung. Der Haushund – canis lupus familiaris – ist hingegen eine
domestizierte Unterart des Wolfes. Er will dem Menschen nah und
nützlich sein. Wolf und Hund entspringen zwar demselben Genpool, aber
die Evolution hat sie einander entfremdet.
Der Kapitalist ist der
Wolf
der Weltwirtschaftsgeschichte. Das von ihm hervor- gebrachte System ist
totalitär, weil die ökonomischen Beziehungen allen anderen Beziehungen
ihren Stempel aufdrücken. Im Zentrum des Denkens und Handelns dieser
Spezies steht seit jeher das Geld, wie uns das Wort »Kapitalismus« ohne
Umschweife mitteilt. Und die Überhöhung zum »Ismus« deutet darauf hin,
dass wir uns im Tempel der Heilslehren befinden, wo eine Tapetentür
immer auch zum Fanatismus führt.
Hier wird
Profitverherrlichung in all
seiner Einfältigkeit gepredigt. Kein zweiter Autor hat die frühe
Morgenstunde des Kapitalismus vergleichbar einprägsam überliefert wie
der Fabrikantensohn Friedrich Engels. Das »Geldmachen ist die Sonne, um
die sich alles dreht«, schrieb er in seinem Werk »Die Lage der
arbeiten- den Klasse in England«. Der Marktwirtschaftler ist von
anderer,
deutlich friedlicherer Natur. Er ist der aus dem Wolf hervorgegangene
Haushund. In einem langen Evolutionsprozess hat er sich durchgesetzt.
Über die Wendeltreppe der
Irrtümer führte der Weg zu Marktwirtschaft
und parlamentarischer Demokratie. Das nach dem Zweiten Weltkrieg in
Europa und Amerika durchgesetzte Leitbild der marktwirtschaftlichen
Ordnung folgt der Idee von der Freiheit. Die Marktwirtschaft blickt
nicht mehr auf den Untertan, sondern schaut auf den selbstbestimmten
Bürger.
Auf den Märkten, jenen
Orten, an denen Anbieter und
Nachfrager, Bedürftige und Begünstigte, Gebildete und solche, die es
erst noch werden wollen, zusammentreffen, sollen sie ihre Freiheit
ausleben dürfen. Der Einzelne kann zur angebotenen Ware Ja, Nein oder
gar nichts sagen. Die Marktwirtschaft ist kein Beherrschungsvertrag,
sondern ein Koordinierungsvorgang zwischen freien Menschen. Der
Marktwirtschaftler will nicht andere berauben, sondern anderen nützlich
sein. Er strebt eine über den Preis vermittelte Harmonie an, wo der
eine gibt, was der andere braucht.
Allerdings: Der
Marktwirtschaftler
weiß um den romantischen Gehalt dieser Idee. Deshalb hat er
Institutionen erschaffen, die sie bewachen. Aufsichtsbehörden,
Regulatoren, Monopol- komission, Kartellamt, Verbraucherschutzgesetze.
Wer »Marktwirtschaft« sagt, der sagt auch »Staat«. Der Kapitalist sagt
auch »Staat«, aber er sagt es in verächtlichem Ton. Er verlangt dessen
Unterordnung. Während der Marktwirtschaftler den Staat als Partner auf
Augenhöhe anspricht, klingelt der Kapitalist nach ihm als Diener.
Der
Unterschied zwischen Kapitalismus und Marktwirtschaft wird am
deutlichsten, wenn wir auf den sehr unterschiedlichen Umgang mit den
Verlierern der Gesellschaft schauen. Der Kapitalist der frühen
Industrialisierung glaubte, dass im Kapitalismus ein archaisches
Prinzip verwirklicht sei. Der Löwe fragt schließlich auch nicht die
Gazelle, ob sie gefressen werden will. Anders der Marktwirtschaftler:
Privatwirtschaft wird von ihm nicht mit Privatangelegenheit übersetzt.
Dem Marktwirtschaftler
liegt auch die Welt »jenseits von Angebot und
Nachfrage«, wie sich Wilhelm Röpke ausdrückte, am Herzen. Deshalb ist
den marktwirtschaftlichen Theoretikern der Wettbewerb der Meinungen so
wichtig wie der Wettbewerb der Waren. Nur dass jetzt nicht mit Geld
abgestimmt wird, sondern mit dem Wahlschein.
Nun dürfen wir allerdings
nicht so tun, als würden sich Kapitalismus und Markt- wirtschaft gar
nicht kennen. In der Evolutionsgeschichte der Wirtschaft ist der
Kapitalist der direkte Vorfahre des Marktwirtschaftlers. So wie im Wolf
der Hund schon angelegt war, ist umgekehrt auch im Hund das Wölfische
noch abgespeichert. Es wurde domestiziert, das haben wir eben gesagt.
Nun müssen wir hinzufügen: Aber ausgerottet wurde es nicht. In jedem
Hund steckt immer auch ein Wolf.
Die eigene
Vergangenheit steckt
ihnen bildlich gesprochen noch in den Knochen. Keynes spricht vom
»animal spirit«. Unverkennbar findet dieser "animal spirit" in der
spekulativen Übertreibung der Bankenwelt, beim manipulativen Umgang mit
Börsennotierungen und Zinssätzen und der von Gier und
Rücksichts- losigkeit geprägten Szenerie der Weltfinanzmärkte seinen
Ausdruck. Der Wolf als »König der Wälder« tritt uns nun als Mensch
gewordener »Master of the Universe« gegenüber.
Oder um es den Worten
des Co-Chef der Deutschen Bank, Anshu Jain, selbst ein Kind der
kapitalistischen Bonanza, zu sagen: Der Vertrag zwischen den Banken und
der Gesellschaft ist gebrochen worden. Das kommt uns bekannt vor: Die
soziale Inkompetenz des Kapitalismus war erwiesen, die ökonomische und
politische auch. Das System hielt es mit sich selbst nicht aus. Dieser
Kapitalismus besaß etwas Fratzenhaftes, vor dem sich das Publikum zu
Recht fürchtete.
Noch einmal John Maynard
Keynes, der 1933 schrieb:
»Der dekadente internationale und individualistische Kapitalismus, in
dessen Händen wir uns nach dem Ersten Weltkrieg befanden, ist ein
Misserfolg. Er ist weder intelligent, noch schön, noch gerecht, noch
tugendhaft, und vor allem hält er nicht, was er verspricht. Er gefällt
uns nicht, und wir fangen allmählich an, ihn zu hassen .«
Die Menschen
wollen aber nicht links oder rechts leben, sie wollen gut leben. Damit
sind wir bei Ludwig Erhard gelandet. Erst in seiner Amtszeit gingen die
Worte »Wirtschaft«, "Freiheit" und »Wohlstand« eine dauerhafte
Beziehung miteinander ein. Erhard war das Beste, was den Deutschen seit
der Reichsgründung 1871 passiert war. Er versöhnte die
Wirtschaftsordnung mit der Freiheit. Es ging immer um beides: Ordnung
ohne Freiheit war Planwirtschaft. Freiheit ohne Ordnung war
Kapitalismus.
Ludwig Erhard: "Eine
Freiheit, die nicht um das Ganze
weiß, eine Freiheit, die sich nur an individuellen, egoistischen
Interessen ausrichtet und dafür womöglich noch staatlichen Schutz
fordert, wird zu einem Zerrbild dieses höchsten Wertes." In seinen 14
Jahren als Wirtschaftsminister und den vier Jahren als Bundeskanzler
wurde Erhard zum größten Wohlstandsermöglicher der deutschen
Geschichte.
Von 1950 bis
1960 wuchs der Wohlstand in Deutschland pro
Kopf um durchschnittlich 6,5 Prozent und damit doppelt so schnell wie
der Pro-Kopf-Wohlstand in den Niederlanden und in Norwegen, dreimal so
schnell wie der Pro-Kopf-Wohl- stand in Großbritannien und
viermal so schnell wie die Vergleichsziffer in den USA.
Erhards
Kunststück bestand darin, die Privatwirtschaft von der Diktatur des
Staates befreit zu haben, ohne sie erneut zu entfesseln. Der
kapitalistische Wolf wurde durch strengere Spielregeln und neue
Institutionen domestiziert und die Gesellschaft so gegen Rückfälle
immunisiert. Es kam zur friedlichen Koexistenz der geschichts-
mächtigen
Gegenspieler Kapital und Arbeit. Die Wirtschaft verstand sich nicht
mehr als Gegner und Ausbeuter der Menschen, sondern als ihr Partner.
Während die Linken über
einen »Dritten Weg« zwischen Kapitalismus und
Sozialismus debattierten, hatte ihn Erhard längst beschritten. Der
Staat hatte das Sagen, aber nie allein. Das Privateigentum wurde
garantiert, aber nur unter der Prämisse, dass es sich »sozial« verhält.
»Eigentum verpflichtet.«, heißt es in der neuen Verfassung, die bis
heute gilt.
Die Neoliberalen
definierten den Liberalismus neu; sie
trieben dem Markt das Ausschließliche aus. Dafür stand die Vorsilbe
»Neo« – für das Ende der liberalen Marktfixiertheit, für den Zweifel an
der Staatsferne der Wirtschaftsordnung, für den Einzug des Sozialen in
das ur-liberale Gedankengebäude. Erst später wurde »Neo- liberalismus«
mit »Gefühlskälte« übersetzt, wahrscheinlich aus Unkenntnis der
neoliberalen Bewegung nach dem Zweiten Weltkrieg.
Anders als die
klassischen Liberalen setzten Männer wie Müller-Armack, Erhard und
Röpke auf das Wechselspiel von Privat und Öffentlich, von Arbeiter und
Unternehmer, von Eigeninteresse und Allgemeinwohl. Der Markt würde in
diesem neuen System »für letzte Entscheidungen unzuständig«, sagte
Röpke. Aber das Scheitern war noch immer möglich und sollte es auch
sein. Das Scheitern darf die Marktwirtschaft bei Strafe des Untergangs
nicht vereiteln. Sie muss Gewinner gewinnen und Verlierer verlieren
lassen.
Die »kreative Zerstörung«,
von der Schumpeter sprach, gehört zu
den Vorzügen der Wettbewerbsordnung, nicht zu ihren Makeln. Sie ist der
Wohlstandsmotor unseres Lebens. Was passiert, wenn einer wichtigen
Branche eine Ausnahmegenehmigung ausgestellt wird, wenn deren Risiken
nicht mehr vom Unternehmer, sondern vom Steuerzahler getragen werden,
wenn Produkte und Geschäfts- praktiken überleben, die sich als
gefährlich
oder sinnlos erwiesen haben, können wir heute am Beispiel der privaten
Banken studieren.
In der Konzeption von
Erhards Marktwirtschaft,
war die Gründung einer Sonderwirtschaftszone für Banken nicht
vorgesehen. Der einzelne Mensch sollte vor den schlimmsten Folgen des
eigenen Scheiterns oder dem Scheitern seines Unternehmens bewahrt
werden. Nicht aber eine ganze Industrie. Den Arbeiter wollte man nicht
mehr dem Risiko des Totalverlustes von Einkommen, Gesundheit,
Sozialprestige und Lebensglück aussetzen. Das war menschlich geboten
und politisch klug. Aber für die Unternehmen oder gar eine ganze
Branche konnte diese Barmherzigkeit nicht gelten, denn sie sollten sich
anstrengen und, wenn diese Anstrengung keine Früchte trug, dem Besseren
Platz machen.
Die Marktwirtschaft
begründete den Sozialstaat, aber sie
wollte nicht den Subventionsstaat aus der Taufe heben. Die
Wohlstandsmaschine der Nachkriegsjahrzehnte schnurrte auch deshalb so
reibungslos, weil niemand auf die Idee kam, die Geldversorgung, diesen
Zentralbereich der Volkswirtschaft, vom Scheitern freizustellen.
Die
Begriffe »Bad Bank« und »Rettungsschirm« waren noch längst nicht
erfunden.
Eher hätte der
Vorstand der Bundesbank den kollektiven
Freitod gewählt, als den privaten Banken innerhalb weniger Tage eine
Billion Deutsche Mark an Liquidität zur Verfügung zu stellen, was der
doppelten Summe aller deutschen Steuerzahlungen des Jahres 2012
entspricht.
Ein Doktorand der
Ökonomie, der vorgeschlagen hätte, dass
verschuldete Länder für andere hoch verschuldete Länder eine
Generalgarantie übernehmen, dass Staaten die Billionen ihrer Sparer als
Bürgschaft einsetzen, dass nahezu alle Banken eine staatliche
Überlebensgarantie ausgehändigt bekommen, wäre nicht zur
Abschlussprüfung zugelassen worden.
Jene Zeit, als die
Weltwirtschaft
ohne derartige Regelverletzungen arbeitete, muss im Rückblick als die
erfolgreichste Periode der Weltwohlstandsgeschichte betrachtet werden.
In der Zeit
zwischen 1960 und 1990 wuchs Westeuropa so schnell und so
schwankungsfrei wie nie zuvor und nie danach. Das Vorkriegsniveau wurde
bereits im Jahr 1950 überschritten. 1990 produzierte allein Deutschland
sechs Mal so viele Waren und Dienstleistungen wie 1950. Die
Durchschnittswachstumsrate in Deutschland betrug in der Periode 1960
bis 1990 3,3 Prozent und in England 3,7 Prozent.
Über die Gründe
der neuen Verlässlichkeit braucht nicht spekuliert werden: Der
Menschenschlag war derselbe wie vor dem Krieg. Die Rohstofflage, das
Klima, die religiöse Grundfärbung, das Familienleben und was sonst noch
eine Gesellschaft kennzeichnet, hatten sich kaum verändert. Aber die
Ordnung der Wirtschaft war eine grundlegend andere geworden. Eine
Ordnung, die Freiheit ermöglichte, und eine Freiheit, die sich an eine
Ordnung gebunden fühlte, das war die Zauberformel jener Jahrzehnte.
Das
Amerika der Präsidenten Richard Nixon, Gerald Ford und Jimmy Carter war
ein Uncle Sam mit hängenden Schultern. Die Wachstumsgeschwindigkeit
verlangsamte sich. Das Loch im Staatshaushalt wuchs. In der
Wertschätzung der Regierung in Washington stiegen nun die
Finanzgewaltigen der Wall Street zu Partnern auf.
Die Interessen
der
Banken – Kredit verkaufen – und der Politiker – Kredit verbrauchen –
ergänzten sich auf's Schönste. Staat und Bankenindustrie lagen noch in
unterschiedlichen Betten, aber sie träumten bereits den gleichen Traum.
Die Verformung der
marktwirtschaftlichen Verhältnisse hatte begonnen.
Auf dem Immobilienmarkt der USA fand sich der ideale Nährboden für die
Geburt dessen, was ich Bastardökonomie nenne. Denn Banken und Staat
sind sich hier traditionell nahe. Die Beziehung von
Immobilienwirtschaft und Regierung ist stabiler als die meisten
Partnerschaften unserer Tage. Es gibt kein Geschäft auf diesem Markt,
das der Staat nicht eingefädelt oder gefördert hätte.
Auch private
Schulden sind nicht so privat, wie sie aussehen. Die amerikanische
Regierung mischt sich in diesen Markt seit jeher noch lebhafter ein,
als es die Regierungen in Kontinentaleuropa tun. Alle amerikanischen
Regierungen seit Hoover haben sich der »Homeowner Society«, der
Hauseigentümergesellschaft, verschrieben, mit einem Ergebnis, das
durchaus beeindruckend ist:
Rund 68 Prozent
der amerikanischen Häuser
und Wohnungen gehören heute der Familie, die darin wohnt. In
Deutschland befinden sich nur 43 Prozent aller Häuser und Wohnungen im
Eigentum des Bewohners. Wenn es denn eine Gemeinsamkeit von Clinton und
Bush junior gab, dann war es ihr politischer Wille, den Anteil der
Hausbesitzer zu erhöhen.
Die industrielle
Kernschmelze der
US-Volkswirtschaft hatte sich beschleunigt, die Exportdominanz war
verloren, im unteren Einkommensbereich erodierten die Gehälter. Es gab
gute Gründe für Republikaner und Demokraten, dem schwindenden
Massen- wohlstand mit einer Aktivität im Immobilienmarkt zu begegnen.
Da
die Staatsmittel für eine großformatige Förderung des Hauseigentums
nicht ausreichten, bot sich die Fremd- finanzierung an.
Das Geldverleihen
an Menschen ohne Einkommen, das Beseitigen von Hemmnissen auf Seiten
der Regulierungs- behörden, das Absenken der Eigenkapitalstandards bei
den Banken, das Erfinden und Erlauben »kreativer« Finanz- instrumente,
all das wurde staatlicherseits nicht nur zugelassen und erlaubt. Es
wurde in den Amtsstuben von Clinton und Bush junior ausgedacht und
angeschoben, um es dann bei allen Mitspielern, der US-Notenbank
inklusive, mit großer Bestimmt- heit durchzusetzen.
Wenn wir in das Jahr
1994 zurückschauen, sehen wir diese hybride Form von Markt- und
Staatswirtschaft in ihrem Embryonalstadium. In der Mitte seiner ersten
Amtszeit, die kommenden Präsident- schaftswahlen vor Augen, bat Bill
Clinton im August 1994 seinen Minister für Haus- und Städtebau zu sich.
Die Zahlen auf dem Häusermarkt sahen nicht gut aus. Der Präsident war
in Sorge um seine Wiederwahl.
Nun entstand ein Programm,
das mit allen
Organisationen, die auf dem Immobilienmarkt etwas zu melden hatten,
abgestimmt war. Am 2. Mai 1995 legte Clinton das Ergebnis der
kollektiven Anstrengung auf dem Briefpapier des Weißen Hauses vor. In
der Präambel hieß es: »Der Besitz von Hauseigentum ist der
Amerikanische Traum. Aber dieser Traum verabschiedet sich allmählich.
Diesen Trend umzukehren ist vital für das Interesse der Nation, ihrer
Volkswirtschaft, ihrer Städte und Dörfer, ihrer Familien.«
Der
100-Punkte-Aktionsplan, den die Clinton-Regierung nun vorlegte, sollte
acht Millionen zusätzliche Menschen bis zum Jahr 2000 zu
Hausbesitzern machen. Die Regierung verabredete zwischen privaten
Immobilienfinanzierern, staatlichen Förderbürokratien und den
halbstaatlichen Immobiliengesell- schaften Freddie Mac und Fannie Mae
eine, wie es in dem Papier hieß, »beispiellose, nie da gewesene
Kollaboration«.
Im Rückblick liest sich
der 100-Punkte-Plan wie der
Bauplan für das perfekte Desaster auf dem Immobilienmarkt der USA. Es
gelte »kreative Finanzierungsformen zu erfinden und zu nutzen«, um den
Häusermarkt »für alle Amerikaner« zu öffnen, heißt es da. Dringend
nötig seien »Reformen bei den Regulierungs- behörden« mit dem Ziel,
eine
»Schnellbahn zum Eigenheim« zu bauen. Die immer wiederkehrenden
Kernsätze des Aktionsplans lauten:
»Wir müssen die
regulatorischen Barrieren reduzieren.« »Wir müssen den Verleihprozess
neu designen,« »Das System der Hausfinanzierung muss auf effektive
Weise die nationalen und internationalen Kapitalmärkte kombinieren.«
»Wir müssen den Hauskauf auch für jene ermöglichen, die kein Geld
haben, eine Anzahlung zu leisten.« »Die übertrieben konservative
Finanzierungs- methoden seien zu beenden«.
Auf dem Höhepunkt des
Immobilienbooms befanden sich bei Freddie und Fannie Immobilienkredite
in Höhe von fünf Billionen Dollar oder 43 Prozent des Marktes in den
Büchern. Man kann es tragisch oder konsequent nennen: Der Finanzchef
von Freddie Mac, der 41-jährige David Kellermann, erhängte sich am 22.
April 2008 im Keller seines Wohnhauses.
Clinton wurde 1997
fulminant
wiedergewählt. Eine Opposition gab es in der Frage des staatlich
geförderten Immobilienerwerbs zu keinem Zeitpunkt. Amerika glich in
dieser Frage einem Ein-Parteien-Staat, der mit geradezu stalinistischer
Härte das eine Credo postulierte: Wohnungseigentum ist gut; je mehr,
desto besser.
Der am 20. Januar 2001
vereidigte neue Präsident George
W. Bush beendete die Clinton-Programme nicht, sondern baute sie aus.
»Wir wollen, dass jeder in Amerika sein eigenes Haus besitzt«, sagte er
im ersten Jahr nach Amtsantritt. »Freiheit durch Deregulierung« hieß
die Devise. Der Finanzwelt waren die Motive der Politiker gleichgültig.
An der Wall Street
interessiert man sich nicht für Armut. Hier ging es
um eine Expansion der Geschäftstätigkeit, ohne dass die Risiken gleich
mit expandierten. Denn die Geldhäuser wurden von.
Immobilienfinanzierern, die das Risiko bis dahin in ihren Büchern
getragen hatten, zu Kreditvermittlern und Wertpapier-Designern. Durch
den Verkauf des Wertpapiers, in dem nun Tausende von
Immobilienfinanzierungen paketiert waren, ließ sich eine risikofreie
Marge verdienen und – das war der Clou bei der Sache – in Folge dessen
die aufwendige Kreditprüfung früherer Jahre auf ein Minimum reduzieren.
Denn ein Risiko, das in
Windeseile weitergereicht werden konnte,
brauchte man nicht durch lästige Prüfungen der Kreditnehmer erst noch
taxieren. Die Kreditgeber waren nur noch Kreditvermittler. Clinton
hatte – wir erinnern uns – acht Millionen, Nachfolger Bush junior
weitere sieben Millionen neue Hauseigentümer bei der Finanzindustrie
bestellt. Jetzt musste geliefert werden.
Es kam zu einer
Neudefinition wichtiger ökonomischer Grundbegriffe.
Wohlstand
in Zeiten
der Wohlstandsillusion ist nicht mehr das, was die Nation besitzt,
sondern das, was sie verbraucht. Wohlhabend ist nicht mehr der
Besitzende, sondern der Konsumierende. Reich wird man nicht durch harte
Arbeit, sondern durch das Jonglieren mit mehreren Kreditkarten.
Freiheit wurde definiert als der Triumph des Scheins über das Sein. Das
Unwirkliche wird zur Wirklichkeit erklärt.
Das Rauschhafte zog in die
US-Volkswirtschaft ein. Als auch in Westeuropa die Wachstumsraten
abflachten, begann man hier ebenfalls, Wohlstand in hohen Dosen auf den
Kapitalmärkten dazuzukaufen.
Das Volumen der
in Umlauf befindlichen
Staatspapiere hat sich allein in den vergangenen 20 Jahren mehr als
versechsfacht. Betrugen die Außenstände aller Staaten Ende der 80er
Jahre erst 7,35 Billionen Dollar, sind es heute 44,6 Billionen Dollar.
Weltweit begann nun der
Aufstieg jener bankähnlichen Institutionen, die
ohne Bankschalter und ohne Eigenkapital auskommen. Hedgefonds und
Private-Equity- Gesellschaften stiegen aus der Nische des Finanzsystems
in deren Zentrum auf. Die Politik rollte jenen Männern und Frauen, die
SPD- Chef Franz Müntefering später »Heuschrecken« nennen sollte, den
roten Teppich aus.
Ende 2001 beschloss
die rot-grüne Bundesregierung in
Berlin das vierte Finanzmarktförderungsgesetz. Was so harmlos klingt,
öffnete der bis dahin in Deutschland verbotenen Hedgefonds-Industrie
die Tür.
Die Regierung
lockerte die Anforderungen für den börslichen
Handel, erweiterte die Anlagemöglichkeiten von Fonds und gestattete den
Derivatehandel auch im Immobiliengeschäft. Die konservative Opposition
opponierte nicht, sondern feuerte die Regierung an.
Rot-grün ließ sich
nicht lange bitten: Wer modern war, gab sich in diesen Tagen als
beherzter Deregulierer, die Wirtschaftsmedien eingeschlossen. Für die
Banken entstanden paradiesische Verhältnisse.
Das Verhältnis
von
Eigenkapital und verliehenem Kapital betrug vor 100 Jahren noch 40 : 60
Prozent und schrumpfte im Jahr 2007 auf ein Verhältnis von 5 : 95
Prozent.
Die Banken hatten damit de
facto eine Casino-Lizenz erhalten.
Sie durften nun Risiken in ihre Bücher nehmen, die sie im Fall der
Fälle nicht selbst tragen konnten. Und noch einen Trick fand man, um
die Beziehung von Schuldenstaat und kreditgebender Bank zu festigen.
Man
räumte der Staatsanleihe einen Sonderstatus ein. Sie zählt
nun nicht mehr als Kreditposition in der Bankbilanz, sie musste nicht
länger mit Eigenkapital besichert werden.
Damit wurde der
Schuldschein
des Staates von »riskant« auf »sorglos« umetikettiert. Mit dem
gewünschten Ergebnis, dass Banken und Versicherungen nun erst recht
beherzt zugriffen. Im Grunde konnte man nun staatliche Schuldscheine in
unbegrenzter Höhe erwerben, da für sie keinerlei Eigenkapital
vorgehalten werden musste. Ihr Kauf war kostenfrei.
Die steigende
Staatsverschuldung wurde für die Banken nun erst ein lohnendes
Geschäft. Deshalb auch heißen die Abteilungen, die Staatsanleihen
aufkaufen: Fixed Income. Festes Einkommen.
Dabei ist es keineswegs
so,
dass die Geldhäuser den enormen Kreditbedarf des Staates aus den
Einlagen ihrer Kunden decken können. Das können sie nicht. Die
europäischen Banken sind selbst hoch verschuldet.
Auf neun
Billionen
Euro – knapp das Vierfache der deutschen Wirtschaftsleistung – belaufen
sich derzeit die Schulden der europäischen Banken.
Wer morgen früh eine
beliebige westliche Bank überfallen wollte, sähe sich mit der bitteren
Erkenntnis konfrontiert, dass er im Kassenraum nur einen
überdimensionierten Schuldschein vorfinden würde. Doch die Regierungen
fragten jetzt nicht nach Sicherheiten. Sie bestellten immer neuen
Kredit-Nachschub.
Ganze Wahlkämpfe wurden
mit Leihgeld bestritten. Man
kaufte die deutsche Einheit. Man kaufte Europa. Man kaufte den Armen
Häuser und schenkte den Ost-Rentnern die Rente. Die Welt war käuflich
geworden, zumindest dachte man das.
Nur ein Narr würde ein
Darlehen von
1.000 Dollar aufnehmen und anschließend behaupten, er wäre um 1.000
Dollar reicher, sagt der ehemalige Wirtschaftsberater von Václav Havel,
Tomás Sedlácek. Aber genau diese Narretei begingen die Regierungen
damals. Sie kauften Wohlstand am Kapitalmarkt dazu; mit dem Ergebnis,
dass die Wirklichkeit, die uns seither umgibt, synthetisch erzeugt ist.
1980 betrug die
deutsche Staatsverschuldung erst 239 Milliarden Euro
oder 30 Prozent der Wirtschaftskraft. Zwischen 1980 und 2000 legte die
Verschuldung um rund 400 Prozent oder 970 Milliarden Euro zu. Im ersten
Jahrzehnt des neuen Jahrtausends wuchs sie erneut um 66 Prozent oder
800 Milliarden Euro. Sie beträgt zum Jahresanfang 2013 2,05 Billionen
oder rund 80 Prozent unserer Wirtschaftskraft.
Die Behauptung
der Regierung, das viele neue Leihgeld sei in den Aufbau von
Zukunftsprojekten geflossen, ist freihändig erfunden. Man muss kein
amtlich vereidigter Sachverständiger sein, um das zu sehen. Der
optische Eindruck von Schulen und Straßen bestätigt den statistischen
Befund.
Der Kreditboom dient
erkennbar nicht dem Zukunftsaufbau,
sondern der Befriedigung einer unstillbaren Gier nach Gegenwart. Das
Vorgehen der Regierungen wirft nicht nur Fragen der Seriosität auf,
sondern auch Fragen der Legitimation.
Darf eine für vier
Jahre gewählte
Regierung Entscheidungen treffen, die die Spielräume späterer
Generationen derart beeinträchtigen?
Wirkt nicht diese
Form des
Zukunftsverzehrs wie eine Enteignung, bei der die Betroffenen, die
Ungeborenen in diesem Fall, nicht einmal die Chance haben, den
Rechtsweg zu beschreiten?
Und bedeutet es nicht
generell einen
Missbrauch des parlamentarischen Budgetrechts, wenn die jetzige
Generation von Abgeordneten das Königsrecht des Parlaments schon im
Vorgriff auf die ihr nachfolgenden Abgeordnetengenerationen ausübt?
Die
Verschuldung wirkt durch die Jahrzehnte nach. Das ist das Teuflische an
ihr. Eine Sporthalle beispielsweise, die 1970 mit einer Million Euro
geliehenem Geld gebaut wurde, würde (einen Zinssatz von vier Prozent
unterstellt) von der Gemeinde und ihren Bürgern bis zum Jahr 2010 fast
fünfmal bezahlt. Zu den Baukosten von einer Million Euro kommen nämlich
3,8 Millionen Euro an Zinszahlungen dazu, da der Staat sich angewöhnt
hat, auf Tilgung zu verzichten.
Der Zinseszins-Effekt
treibt ein böses
Spiel. Die Kosten der Sporthalle steigen – da die Mechanik von Zins und
Zinseszins ja nie zum Stillstand gebracht wird – sogar ins Unendliche.
Die Banken
triumphieren, aber der Bürger wird mit jeder Sporthalle, die
auf diese Art gebaut wird, geschädigt. Bei ihrer Einweihung müsste
eigentlich ein Trauermarsch gespielt werden.
Wer die öffentlichen
Haushaltsbücher aufschlägt, bekommt die Geschichte von Maß- und
Gedankenlosigkeit im Detail erzählt. Noch der kleinste Kredit ist hier
verzeichnet. Vor allem aber fällt der wachsende Posten für die Zinslast
auf.
Allein beim
Bund fließen mittlerweile zehn Prozent aller Ausgaben
direkt an die kreditgewährenden Banken zurück, rund 30 Milliarden Euro
jährlich. In der nunmehr 64-jährigen Geschichte der Bundesrepublik
mussten Länder, Kommunen und der Bund bisher insgesamt 1.350 Milliarden
Euro an Zinszahlungen an ihre Gläubiger überweisen.
Dieses Geld
steht nicht mehr für bessere Universitäten oder eine zeitgemäße
Infrastruktur zur Verfügung. Deshalb ist Zins nur ein anderes Wort für
Unfreiheit.
Die große Umverteilung
unserer Tage findet dabei keineswegs
zwischen Arm und Reich statt, wie die politische Debatte uns weismachen
will, sondern zwischen geboren und ungeboren.
Unsere Nachfahren sind
dazu verdammt, hohe Wachstumsraten zur Bedienung der Billionenschuld zu
erwirtschaften. Gelingt ihnen das nicht, wartet auf sie ein Leben in
Zinsknechtschaft.
»Die Wahrheit ist den
Menschen zumutbar«, hat die
Schriftstellerin Ingeborg Bachmann einst gesagt. Aber diese Wahrheit
ist den Menschen nur schwerlich zumutbar.
Schon deshalb lohnt es,
ihr
Eintreffen zu verhindern. Nun sollten wir nicht so tun, als habe die
neue Zeit nur Verlierer produziert. Das hat sie nicht. Kaum treten wir
aus dem Schatten der staatlichen Schuldenberge heraus, sehen wir die
Sonne, die auf die Hochhäuser der Banken scheint. Hier wohnen die
großen Ermöglicher von Politik.
Die Banken schauen zurück
auf eine
Periode historisch einmaliger Prosperität. Es gibt keine andere
Branche, die seit den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts derart
aufge- blüht ist.
Betrug die
Bilanzsumme aller amerikanischen Banken 1990
erst 3,3 Billionen Dollar, waren es 2010 bereits 11,8 Billionen Dollar,
inflations- bereinigt ergibt sich ein Wachstum um 134 Prozent. Zur
gleichen Zeit wuchs das amerikanische Brutto- sozialprodukt nur um real
63 Prozent.
In Deutschland
das gleiche Bild. Die Bilanzsumme der
Deutschen Bank hat sich zwischen 1990 und 2010 um real 640 Prozent
erhöht. Verfügte das Institut im Einheitsjahr erst über eine
Bilanzsumme von 204 Milliarden Euro, was acht Prozent des deutschen
Sozialprodukts entsprach, steigerte sich das Geschäftsvolumen bis 2010
auf knapp zwei Billionen Euro. Damit betreibt eine einzige Bank
Geldgeschäfte nahezu in Höhe der Wirtschaftskraft von Europas größter
Volkswirtschaft. Sie ist, gemessen an den Geldern, die sie bewegt, ein
Staat im Staate.
Dieses Superwachstum ist
nicht Ausdruck besonderer
Leistungen, sondern Ausdruck besonderer Umstände. Die dem Gemeinwohl
verpflichteten Politiker und die auf Gewinnmaximierung ausgerichteten
Banken verstehen sich nicht länger als Gegenspieler, sondern als
Partner. Sie bilden eine Zugewinngemeinschaft mit angeschlossener
Rückversicherung.
Der eine kann
ohne den anderen nicht mehr
leben.
Deshalb rettet heute der Staat die Banken und die Banken retten
den Staat.
Ausgerechnet im zentralen
Sicherheitsbereich unserer
Markt- wirtschaft kam es also zu einer Mutation. Der Staat, eigentlich
für die Rahmensetzung zuständig, und die Banken, ursprünglich mit der
Geldversorgung der Volkswirtschaft beauftragt, begannen eine
Zusammenarbeit, bei der jeder in den Grenzbereich des anderen vorstieß.
Die Banken wurden zum
Ermöglicher von Politik. Der Staat stieg zum
Beschützer des privaten Geldgeschäfts auf. Die Pleite von Lehman
Brothers war nicht der Beginn einer Entflechtung von Staat und
Finanzmarkt, sondern im Gegenteil der Auftakt zu einer neuen
Kooperationstiefe, die alles Bisherige in den Schatten stellte.
Die
Wesensveränderung im marktwirtschaftlichen Orga- nismus, die wir
»Bastardisierung« genannt haben, erlebte nun einen neuen Schub.
Seit
Ausbruch der Bankenkrise flossen rund eine Billion Euro an direkter
Staatshilfe und 2,5 Billionen Euro von den Notenbanken in das
Finanzsystem. Für die Banken hatte der Staat damit die Funktion einer
kostenlosen Rückversicherung übernommen, die im Schadensfall ohne
Prüfung der Schuld auszahlt.
Das senkt die Kosten der
Geldindustrie und
erhöht ihren Risikoappetit – bis heute. Wann immer die Marktwirtschaft
Zeichen von Schwäche zeigt, spritzt der moderne Politiker ihr einen
Stimulus Cocktail, bis die Wirtschaft zu florieren und der Bürger zu
halluzinieren beginnt.
Obamas Regierung habe
einen Regenbogen an den
wolkenverhangenen Himmel der Weltwirtschaft gezaubert, sagte der
Politologe Larry Sabato. Die Geldschöpfung, im Politikbetrieb
»Stretching the Dollar« genannt, befriedigt das Geschäftsinteresse der
Banken genauso wie das Wähler- beglückungsinteresse der Politik.
Die
Banken tauschen Geld gegen mehr Geld, die Regierungen Geld gegen
Wahlerfolge. Die Rechnung für diese Zusammenarbeit, das ist für die
Akteure das Praktische, wird erst zeitversetzt zugestellt. Sie landet,
so hoffen die Beteiligten, bei Menschen im Briefkasten, die erst noch
geboren werden müssen.
Kam im Jahr 1960 jedes
Baby in Deutschland mit
Schulden in Höhe von 2.400 Euro zur Welt, werden die Babys des Jahres
2012 bereits mit einem Minus von 2.450 Euro Schulden geboren. Im Jahr
2050 würde der Fehlbetrag pro Baby – unterstellt, das
Verschuldungstempo würde beibehalten – bereits bei 20.000 Euro
liegen.
Halten wir also fest: Die
westliche Wachstumsschwäche in den
70er und 80er Jahren führte zur Politik des lockeren Geldes, betrieben
von Regierungen und Notenbanken. Die staatliche Politik des lockeren
Geldes und die neue Laxheit bei der Kreditvergabe der privaten und
öffentlich-rechtlichen Banken befeuerten in den USA einen historischen
Immobilienboom, der in der dortigen Immobilienkrise gipfelte.
Vom
US-Immobilienmarkt brannte die Zündschnur weiter in Richtung
Bankenwelt, bis das Geldhaus Lehman Brothers 2008 implodierte. Aus der
Wachstumsschwäche der amerikanischen Volkswirtschaft war damit über die
Immobilienkrise eine US- Bankenkrise geworden. Nun brannte die
Zündschnur weiter, von New York in Richtung Europa.
Denn das Wesen der
Immobilien- und Finanzmärkte besteht darin, dass sie verflochten sind.
Echte oder befürchtete Liquiditätsengpässe im Bankensystem schüren ein
Misstrauen, das sich nicht an die Grenzen von Nationalstaaten und
Währungsgebieten hält. Also mussten nun auch die bis dahin
Unbeteiligten in Paris, London, Berlin, Athen, Rom und den anderen
Staaten der Eurozone reagieren.
Sie taten, was jetzt alle
Regierungen
weltweit taten: Sie führten ihrem wackelig gewordenen Bankensektor ohne
Prüfung der Bedürftigkeit frisches Geld zu, sie nahmen Teile der
Bankschulden in die eigenen Bücher und verbürgten sich mit der Bonität
der Steuerzahler für deren Rückzahlung. Und sie legten kostspielige
Konjunkturprogramme auf, um die sozialen Folgen des Bankenbebens für
die bisher ahnungslose Bevölkerung zu dämpfen.
Viele denken, dass die
Staatsschuldenkrise in Europa und die Immobilienkrise in den USA
miteinander nichts zu tun haben. Aber das stimmt nicht. Die europäische
Staatsschuldenkrise ist eine uneheliche Tochter der US-Subprime-Krise.
Es war der gleiche Mutterschoß, dem sie entkrochen sind. Der Name
»Euro-Krise« soll diese Verwandtschaft, das gemeinsame bastardisierte
Milieu ihrer Herkunft, nur verschleiern.
Natürlich hatten in Athen,
Lissabon und Dublin die Vorarbeiten eigenhändig stattgefunden. Schon
vorher waren die dortigen Gesellschaften kreditsüchtig. Aber erst die
Ereignisse in den USA führten dazu, dass man von der hohen
Staatsverschuldung in die Überschuldung rutschte. Es war wie überall:
Staaten retteten Banken, Banken retteten Staaten, nur dass Staaten und
Banken im Süden Europas diesen Prozess bereits in geschwächter
Verfassung antraten.
Aber zunächst wollte
niemand diese Schwächung
wahrnehmen. Die Führer der westlichen Welt, namentlich die
Regierungschefs in Paris, London und Berlin, drängten die Südländer,
sich nur ja an der Kollektivrettung mittels Bankenrekapitalisierung und
Konjunktur- programmen zu beteiligen.
Die Bastardökonomie geriet
nach dem
Abgang der Lehman Brothers nicht ins Grübeln, sondern in Ekstase. Die
Glückstechnik der vergangenen Jahrzehnte, die großzügige
Selbstgewährung von Kredit, kam nun im Weltmaßstab zum Einsatz. Der
Philosoph Hans Jonas hat einst gesagt: »Die Komplementärgröße zur Macht
muss Verantwortung sein.« Doch in den Monaten nach der Lehman-Pleite,
ja bis heute, kann man den Eindruck gewinnen, Politiker und Banker
seien angetreten, diese Verantwortungsethik zu widerlegen.
Problem und
Lösung hören heute auf denselben Namen: Kredit. Der Schuldenlawine
wurde eine noch größere hinterhergeschickt. Dass der Staat nicht
überall in Europa so maskulin war, wie er behauptet hatte, zeigte sich
kurze Zeit später. Im Süden unseres Kontinents klappte der Retterstaat
bald schon ermattet zusammen. Er hatte sich verhoben. Seine behauptete
Potenz war den tatsächlichen Möglichkeiten vorausgeeilt.
Pendelte die
griechische Staatsschuld in den Jahren vor der Pleite des Bankhauses
Lehman um die 100 Prozent, gemessen an der Wirtschaftskraft, waren es
2011 bereits 165 Prozent, 2013 wird sie ohne weiteren Schuldenerlass
in Richtung 190 Prozent steigen.
Überall in Südeuropa sehen
wir das
gleiche Bild. Vor der Lehman-Pleite lag die Staatsschuld in Spanien bei
rund 30 Prozent der Wirtschaftskraft. Drei Jahre und zahlreiche
Rettungspakete später hatte sie sich verdoppelt.
Nirgendwo lässt
sich
der Einfluss der Bankenkrise auf die Staatlichkeit so deutlich
nachweisen wie in Irland. Das Land war bis zum Tag der Lehman-Pleite
kaum verschuldet. Nur Gelder in Höhe von 25 Prozent der
Wirtschaftsleistung standen in den Kreditbüchern des Staates. Aber der
Bankensektor spielt in Irland eine große Rolle, zu groß, wie sich jetzt
zeigen sollte. Der Staat rettete seine in Bedrängnis geratenen Banken –
und brachte sich selbst damit in die Todeszone.
Die Staatsverschuldung
vervierfachte sich binnen dreier Jahre. Am Ende war der Staat
zahlungsunfähig und musste mit europäischem Geld ebenfalls gerettet
werden, das die anderen Regierungen, die Europäische Zentralbank und –
einmal mehr – der internationale Kapitalmarkt zur Verfügung stellten.
An die im
Maastricht-Vertrag vorgeschriebene Gesamtstaatsschuld von
maximal 60 Prozent hielt sich schon vorher kaum jemand. Jetzt
wurde diese Schuldenbremse de facto ausgebaut.
Dass diese Art
Staatsverträge am laufenden Band nicht nur gebrochen, sondern folgenlos
gebrochen wurden, derweil die Politessen in Paris und Berlin jedem
Falschparker nachstellen, gehört zu den Alltäglichkeiten einer
Bastardökonomie, die sich über den Bürger erhoben hat.
Sie lebt ein
Leben außerhalb der regulären Staatlichkeit. Ihre Freiheit ist
vielleicht nicht grenzenlos, aber die Grenze liegt deutlich außerhalb
der Demarkationslinien, die durch Staatsverträge, Parlaments-
beschlüsse
und Gerichtsurteile gezogen wurden.
Der Bürger
spielt in dieser
Dreiecksbeziehung – Staat, Banken, Notenbank – nur eine untergeordnete
Rolle, auch wenn ihn alle ständig beim Namen rufen. Er war an der
Hervorbringung der neuen Verhältnisse nicht beteiligt. Er hat sie weder
verlangt noch abgesegnet. Er hat ja schon Mühe zu verstehen, was da in
seinem Namen geschieht.
Die Rechnung für dieses die Demokratie
und den
Rechtsstaat überschreitende Treiben wird ihm dennoch später auf den
Tisch gelegt. Geldgewerbe und Staaten haben gar keine andere Wahl, als
die steuerliche Leistungskraft der Leistungsfähigen und die Ersparnisse
der Sparwilligen anzuzapfen. Und wenn der Politik der direkte Transfer
von Schulden zu Steuern nicht gelingt, wird die Inflation die Menschen
heimsuchen.
Sie ist von
allen Formen der Geldvernichtung die
heimtückischste, weil sie ohne Vorwarnung und ohne Parlamentsbeschluss
die Arbeitseinkommen, die Renten und die Spareinlagen zusammendampft.
Derweil das in Beton und Stahl geronnene Eigentum an Häusern und
Fabriken die Inflationszeit in aller Regel »unbeschadet übersteht, wird
das Bargeld entwertet.« »Inflation ist«, so hat es ein amerikanischer
Komiker formuliert, »wenn die Brieftaschen immer voller und die
Einkaufstüten immer leerer werden.«
Die neuzeitliche
Bastardökonomie
steht nicht im Wirtschafts- lehrbuch, weshalb das Unverständnis der
hybriden Verhältnisse weitverbreitet ist. Deshalb streiten
Marktfundamentalisten und Staatsgläubige, Konservative und Progressive,
Christ- und Sozialdemokraten so leidenschaftlich an der Sache vorbei.
Ihre wechselseitigen
Schlachtrufe – Hände weg vom Markt!, verlangen die
einen, gebt uns das Primat der Politik zurück!, die anderen – sind das
Echo einer vergangenen Zeit. Dabei müssen heute Markt- und
Staatsversagen zusammen gedacht werden.
Die Raffinesse der
Bastardökonomie besteht ja gerade darin, dass man Hand in Hand
arbeitet, ohne dass die Hände sich öffentlich berühren.
Im
Scheinwerferlicht der TV-Kameras bespottet, verachtet und bekämpft man
sich, sodass niemand, und zuweilen nicht einmal die Beteiligten selbst,
auf die Idee käme, sie würden gemeinsame Sache machen.
Der fundamentale
Unterschied zwischen der bedrohten Marktwirtschaft des 21. Jahrhunderts
und dem gescheiterten Kapitalismus in den 30er Jahren des vorigen
Jahrhunderts ist folgender:
Der Kapitalismus ging an
sich selbst
zugrunde. Er verstarb, weil man seinen wahren Charakter durchschaut
hatte. Die Marktwirtschaft dagegen leidet, weil man ihren wahren
Charakter manipuliert hat. Die ökonomische und politische
Schadensbilanz liegt vor, die gesellschaftliche steht noch aus.
Wie
sich die Vorgänge im Herzen unserer Volkswirtschaft auf die Köpfe der
Gesellschaft auswirken, kann bisher nur vermutet werden. Niemand weiß
genau zu taxieren, wie viel vom Vertrauenskapital unserer
Wohlstandsordnung bereits abgeschmolzen ist. Spürbar ist, der Furor
gegen die Marktwirtschaft wächst.
Wir sollten den Zorn der
vielen als
das verstehen, was er auch ist: ein Auftrag zur Aufarbeitung der
Ereignisse, die sich da im Innersten unserer Volkswirtschaft ereignet
haben. Die Gesellschaft hat ein Recht darauf, dass dieser Auftrag von
ihren Eliten angenommen und abgearbeitet wird.
Die Verantwortlichen von
Regierung, Finanzwirtschaft, Notenbank und die großen Köpfe der
Wissenschaft sind nach den krisenhaften Ereignissen der letzten drei
Jahre erklärungspflichtig. Wenn das Recht »als das Immunsystem des
Gesellschaftssystems« (Peter Sloterdijk) funktionieren soll, muss auch
der Rechtsstaat mit all seinen Antikörpern zum Einsatz ausrücken.
Bis
zum Beweis des Gegenteils sollten wir davon ausgehen:
Die Keller der
Banken sind voller Leichen. Zu viele Fragen sind offen, als dass man
mit dem Aktionismus der CDU-Kanzlerin und dem eilig verfassten
10-Punkte-Plan des SPD-Kanzlerkandi- daten zur Tagespolitik übergehen
dürfte:
Wie konnte es sein,
dass Zinssätze wie der Euribor und der
Libor, die für Millionen von Finanzprodukten, darunter auch den
normalen Hauskredit, als Richtgröße gelten, über Jahre
manipuliert wurden?
Warum haben die
Vorgesetzten der Manipulateure
nichts gemerkt? Und wo war der Staat mit seinen Überwachsungsinstanzen?
Wieso durften normale
Händler überhaupt Milliardenrisiken eingehen, und
wenn sie es nicht durften, wie konnten dann die Sicherheitssysteme so
kläglich versagen?
Wie gerieten jene
derivativen Produkte in Umlauf,
die durch keinerlei Leistungen gedeckt waren?
Warum muss jeder
Autohersteller Garantie- ansprüche übernehmen, derweil die
emittierenden
Banken mit einem Schulterzucken davonkommen?
Wie erklärt es
sich, dass
hoch bezahlte Bankvorstände und deren Forschungsabteilungen die Risiken
von Ländern wie Griechenland und von Banken wie Lehman Brothers, Bear
Stearns und Hypo Real Estate nicht gesehen haben?
Dieselbe Frage geht
auch an den Finanzminister und das ihn umgebende Ministerium. Man kann
dieses Nichterkennen einer solchen Jahrhundertverwerfung durch das
Finanzministerium auch als unfreiwilligen Vorschlag der Ministerialräte
zum Bürokratieabbau verstehen.
Die Bundesregierung
braucht keine
Grundsatzabteilung, die das Grundsätzliche nicht erkennt. Die
wichtigste Aufgabe der kommenden Jahre wird die Entflechtung von Staat
und Finanzsektor sein. Die bastardisierte Marktwirtschaft hat sich als
Sackgasse der ökonomischen Evolution erwiesen. Beim Zusammenspiel der
zwei ungleichen Partner wurden auf beiden Seiten Kontrollfunktionen
durch Abhängigkeitsbeziehungen ersetzt. Beide sollten eine
Arbeitsbe- ziehung unterhalten, aber nicht ineinander verschmelzen.
Jetzt, wo es passiert ist,
müssen die beiden wieder Arbeitspartner
werden und ihre verhängnisvolle Affäre beenden. Die Marktwirtschaft
braucht natürlich beide – die Ordnungsmacht Staat und ein Finanzsystem,
das die Brücke schlägt zwischen Geldbesitzern und Ideenbesitzern, das
Investitionen ermöglicht, Spargelder verzinst und gegen Währungsrisiken
absichert. Aber sie braucht beide in getrennter Formation.
Nicht der
Staat und die Banken sind von Übel, sondern ihre Zusammenarbeit ist von
bedenklichem Charakter.
Beide können die
Risiken, die sie eingehen,
nicht tragen. Das Rad, das da gedreht wird, ist zu groß.
Die
Abgeordneten, die doch die Regierung kontrollierten sollten,
haben
keine gute Arbeit geleistet. Der real existierende Parlamentarismus
zweifelt die Regierung nicht an, sondern hält ihr den
Steigbügel.
Der Souverän ist frei nur
darin zu entscheiden, ob die
Abgeordneten der Regierung den Bügel von links oder von rechts halten.
Appelle an die Vernunft der Abgeordneten hat es seither reichlich
gegeben. Sie wurden gehört, aber nicht verstanden. Was uns zu dem
radikalen, aber in seiner Konsequenz logischen Schritt führt, den
Abgeordneten das Edelste ihrer Rechte, das Budgetrecht, wieder zu
entreißen. Sie haben es durch ihr Tun ohnehin verwirkt.
Das Budgetrecht
war einst als das entscheidende Instrument gegen staatliche Willkür
gedacht.
Die Engländer setzten es
1689 in ihrer »Glorious Revolution«
durch. Auch in der US-Verfassung fand das Budgetrecht seinen
prominenten Niederschlag: »No taxation without representation« – keine
Besteuerung ohne Zustimmung der Volksvertreter. So lautet das eiserne
Versprechen.
In Deutschland war das
Budgetrecht erst in der Zeit von
Reichskanzler Otto von Bismarck eingeführt worden. Heute manifestiert
sich dieses Recht in Artikel 110 des Grundgesetzes. Die Abgeordneten
können sich die Empörung über den Vorschlag, ihnen das Budgetrecht zu
entreißen, sparen. In Wahrheit haben sie es durch ihr Finanzgebaren der
letzten Dekaden, als kein Steuerrekord hoch genug ausfiel, um nicht
doch einen neuen Kredit zu bestellen, selbst zur Disposition gestellt.
Der Horizont
der Abgeordneten war systematisch zu kurz gespannt. Sie
dachten an die kommende Wahl, wo sie an das Wohl des Landes hätten
denken sollen. Sie sahen nicht das große Ganze, nur ihr Karo darin. Sie
haben, um es in der Sprache des Alten Testamentes zu sagen, die
Talente, die man ihnen gab, nicht gemehrt, sondern verprasst. Das darf
nicht folgenlos bleiben.
Denn das Budgetrecht
enthält, wie alle anderen
Rechte, eine eingebaute Pflicht. Diese Pflicht hätte darin bestanden,
der notorischen Verschuldung Einhalt zu gebieten.
Stattdessen
wurde
jedes politische Ereignis, dessen man habhaft werden konnte, die
Ölpreise-Krise, die Deutsche Einheit, der Aufbau Europas, die
Lehman-Pleite, die Euro-Turbulenz, der tatsächliche wie der nur
befürchtete Konjunktureinbruch, zum Anlass genommen, bei den Banken
Nachschub zu bestellen.
Wir sollten nachsichtig
sein mit unseren
Volksvertretern. Sie sind nicht bösartig, nur verunsichert. Sie haben
sich ein anderes Bild von ihrem Volk gemacht. Sie wollten dem Bürger
etwas bieten, und sei es auf seine eigenen Kosten. Aber vielleicht
liegt da ja der Denkfehler. Wir sollten unseren Wahlkreisabge- ordneten
in der nächstbesten Bürgersprechstunde aufsuchen, ihn in den Arm
nehmen und beruhigen.
Lieber Volksvertreter, wir
erwarten von Dir gar
keine neuen Haltlosigkeiten. Nun lass uns doch erst mal die bisherigen
abbezahlen. Dann wird er uns verständnislos anschauen nach all den
Jahrzehnten, in denen er glaubte, uns beglücken zu müssen. Wenn er tief
Luft geholt hat, können wir ihm davon erzählen, wie wir Bürger mit Geld
umgehen, wie wir emsig sparen, wie wir Versicherungen für später und
für die Kinder abschließen, wie wir das Haus abstottern und es nicht
mit immer neuen Krediten bezahlen.
Der rollierende
Hauskredit scheint
ein Finanz- produkt, das nur Bundespräsidenten in Anspruch nehmen.
Wenn
der Abgeordnete uns dann noch immer keinen Glauben schenkt, sollten wir
ihm ein paar Zahlen mitbringen, zum Beispiel diese:
In denselben 60
Jahren Bundesrepublik, in denen der Abgeordnete und seine Kollegen das
Konto unseres Gemeinwesens um rund zwei Billionen überzogen, haben wir
Bürger auf den Sparkonten ungefähr dieselbe Summe als Guthaben
angehäuft.
Reformen auch in der
Finanzindustrie sind nötig: Die Banken
müssen nicht nur ihr Auftreten, sie müssen ihr Leben ändern. Wenn sie
es nicht ändern, werden sie es womöglich verlieren.
Die demokratische
Gesellschaft erträgt es nicht, dass in ihrer Mitte internationale
Geldnomaden kampieren, die sich und ihr Umfeld als eine exterritoriale
Sonderwirtschaftszone begreifen – mit eigener Moral, eigenem
Lebensstil, eigenen Bezahlsystemen und einer staatlichen
Ausfallgarantie für den Fall, dass es wieder anders kommt als gedacht.
Noch fehlt vielen Bankern
das Verständnis für die historische
Situation, in der sie leben.
Sie wollen
nicht wahrhaben, dass ihr
Geschäfts- modell zur Disposition gestellt ist. Ihnen geht es derzeit
ähnlich wie der deutschen Energiewirtschaft, die sich ein Verbot der
Kernenergie in ihren wildesten Albträumen nicht vorstellen konnte.
Deutschland als
rohstoffarmes Land brauche die Atomenergie, sagten und
glaubten die Vorstände aller deutschen Energie- konzerne. Das
Restrisiko
eines Atomunfalls müsse die Gesell- schaft zu tragen bereit sein. Eine
Lösung für die Frage der Endlagerung werde sich finden. Die Vorstände
irrten. Und sie irrten nicht in ihrer Einschätzung der
Energiesituation. Sie irrten in der Einschätzung der gesellschaftlichen
Situation.
Ohne auch nur ein
Rechtsgutachten eingeholt zu haben,
beendete die konservative Kanzlerin nach dem Atomunglück im japanischen
Fukushima das bis dahin gültige Geschäftsmodell aller
großen Energieversorger.
Zum ersten Mal seit der
Nachkriegszeit werden
in Deutschland wieder im großen Stil industrielle Anlagen demontiert.
In der Demokratie, das ist die Lektion, die es zu lernen gilt, bedürfen
Geschäftsmodelle nicht nur der Zustimmung des Aufsichtsrates, sondern
sie müssen zum Gegenzeichnen auch der Gesellschaft vorgelegt werden.
Die Kanzlerin handelte in diesem Fall nur als Notar des Volkes.
Deutschland braucht
mindestens eine global aktive Großbank, sagen die
Männer von der Deutschen Bank. Aber die Tatsache, dass sie Recht haben,
wird ihnen nicht viel nützen. Schon aus Gründen des Selbsterhalts geht
die politische Klasse auf Distanz. Ein Finanzsektor, der seinen Kunden
Sicherheit und Teilhabe an den Chancen der globalen Finanzwelt
versprach, hat die selbst erzeugten Erwartungen enttäuscht.
Alle in den
Filialen ausgehängten Slogans – »Wir machen den Weg frei«; »Leistung
aus Leidenschaft«, »Die Bank an Ihrer Seite« – haben sich in der Stunde
der Krise selbst widerlegt. Der Weg war nicht frei, die Leistung wurde
zur Fehlleistung, die Bank war überall, nur nicht an der Seite ihrer
Kunden.
Die Bank der Zukunft wird
nicht nur anders auftreten, sie wird
vor allem anders denken müssen als das heutige Institut gleichen
Namens. Den öffentlichen Auftrag, den die Banken bei der Geldversorgung
der Volkswirtschaft de facto erfüllen, müssen sie auch als solchen
begreifen. Das klingt harmlos, aber es bedeutet die Abkehr von einem
Geschäftsmodell, das die Gewinne für die Bank zu maximieren versucht,
derweil die Risiken auf Kunden und Staat übergehen.
Die Bank der
Zukunft wird – wie die Energieversorger – sich ihres öffentlichen
Auftrags erinnern müssen. Den Nachweis ihrer Nützlichkeit für die
Gesellschaft muss sie neu erbringen. Von ihr wird erwartet, dass sie
mithilft, das Verschuldungsniveau der Staaten zu senken, anstatt es
weiter zu erhöhen. Eine neue Geldkultur sollte die Probleme der Staats-
und Unternehmens- finanzierung lösen, nicht wie im Falle Griechenlands,
im Fall der Kirch-Gruppe oder im Fall der norddeutschen Reeder
verschärfen.
Das Zeitalter des
»Deleveraging«, des weltweiten
Schuldenabbaus, erfordert die Kunst des geordneten Rückzugs. Das
Dauerrisiko unserer Tage kann nur reduziert werden, wenn das Geldsystem
seine Komplexitätsdynamik bremst. Auch dafür ist es notwendig,
die Schicksale von Staat und Geldgewerbe wieder zu entkoppeln.
Die
Banken sollten die zentrale Notwendigkeit einer Entflechtung von Staat
und Finanzwirtschaft nicht erdulden, sondern aus eigenem Antrieb und im
eigenen Interesse vorantreiben. Sie werden anschließend kleiner sein,
dafür aber stabiler. Aus Verkaufsmaschinen sollten wieder
Geldaufbewahrungs-und Geldberatungsfirmen werden, die dem Kunden
zuhören und ihm helfen, seine Pläne umzusetzen.
Der Grad der
Kunden-Zufriedenheit und des Klienten-Erfolgs muss über die Bezahlung
des Bankers entscheiden und nicht die Tatsache, ob es ihm gelingt, sein
Gegenüber mit möglichst vielen Aktienfonds, Optionsscheinen,
Versicherungen und einer Überdosis Kredit voll zu stopfen.
Die Banken
sollten wieder das werden, was sie waren: Dienstleister für Bürger,
Unternehmen und Staaten, Teil des tertiären Sektors eben.
Es darf
keinen einzigen Spieler in unserer Markt- wirtschaft geben, der das
Etikett systemrelevant trägt und der daraus Sonderrechte ableitet.
Systemrelevant ist der
Bürger, der Souverän, und sonst niemand. Sie
merken meine Damen und Herren. Es geht hier nur scheinbar um Geld und
Zinsen, um Banken und um Verschuldung, es geht immer und zu aller erst
um Freiheit.
Die Feinde der
Marktwirtschaft, von denen ich hier
gesprochen habe, sind auch die Feinde der Freiheit. Die Feinde des
Wohlstandes, wir haben es gesehen, besitzen viele Gesichter. An manchen
Tagen sehen sie aus wie ein Rudel halbstarker Investmentbanker, dann
wieder wie ein Trupp ehrgeiziger Regierungspolitiker, der uns die
eigene Zukunft verkaufen will. Und manchmal sehen die Feinde unseres
Wohlstandes auch nur aus wie wir selbst.
Die als krisenhaft
empfundenen
Umstände haben wir zwar nicht herbeigeführt und nicht gewollt. Die
Augenblicksgier aber, und die Verführbarkeit mittels einer kleinen
Zusatzdosis Wohlstand, beobachten wir auch an uns. Wer möchte, kann
diese Rede auch als Spiegel benutzen.
Wir sollte den bisherigen
Wohlstandsbegriff, auch den, der dieser Rede zugrunde liegt,
überdenken. Wohlstand in seiner in Zahlen gefassten Form ist mehr als
eine Bilanz mit vielen Additionszeichen; Brot und Kleidung, Haus und
Auto, Diamant und Motorjacht summieren sich zu einer Landschaft des
Materiellen, besiedelt von einer Gesellschaft des Habens und des
Haben-Wollens.
Das Wort »genug« ist in
dieser Umgebung heimatlos. Wer
den Wohlstandsbegriffs derart verkürzt, führt ein Leben jenseits und
womöglich sogar unterhalb seiner Fähigkeiten und Bedürfnisse. Wir haben
in der Europadebatte erlebt, wie sich das Materielle gegen die Vision
von der europäischen Einheit erhob.
Nach der Finanzkrise war
es das
Primat des Finanziellen, das die Politik hinderte, ihren Kreditgebern,
also den Banken, auch nur das Geringste zuzumuten.
Die
Vulgärinterpretation von Wohlstand, die ihn mit kreditgetriebenem
Wachstum gleichsetzt, steht heute der notwendigen Trennung von Staat
und Geldwirtschaft entgegen.
Solange die Regierungen glauben, sie
schulden uns Bürgern möglichst hohe Wachstumsraten, werden sie auf den
Kredit als Wachstums- beschleuniger nicht verzichten wollen.
Wenn wir
unsere eigene Mündigkeit ernst nehmen, kommen wir also nicht umhin
festzustellen:
Nichts
geschieht, ohne dass wir es geschehen lassen.
Auch der fortgesetzte politische Betrug entlässt uns nicht aus der
Verantwortung.
Der mündige Bürger muss
all seine Mündigkeit
zusammen- nehmen. Wenn er selbst sich kein Licht anzündet, wird es
niemand anders für ihn tun. Vielleicht muss man neben der Wirklichkeit
auch unsere Wahrnehmung von ihr verändern.
Beim weiteren
Fortgang
unserer Wohlstands- geschichte hängt vieles nicht von den Tatsachen ab,
sondern von unserem Blick auf die Tatsachen.
Wie wollen wir leben?
Empfinden wir ein Absinken der Wachstumsraten als ehrverletzend oder
als annehmbar? Welchen Stellenwert soll das Risiko in unserem Alltag
spielen dürfen? Erlauben wir uns und anderen ein Leben der Auf- und
Abschwünge, oder streben wir das Gemächliche und Erwartbare an?
Was
heute als Niederlage gilt, moderate Wachstumsraten zum Beispiel, lässt
sich auch als willkommene Entschleunigung eines übertourig drehenden
Wirtschaftssystems begreifen. Eine reife Industriegesellschaft wie die
deutsche und die amerikanische müsste sich nicht an jedem Werktag mit
den Wachstumsraten der spät industrialisierten Länder wie China und
Indien messen.
Es gibt auch für
Volkswirtschaften ein altersgerechtes
Verhalten. Vielleicht sollten wir unsere Erwartungen nicht nur den
Möglichkeiten, sondern auch den Bekömmlichkeiten anpassen. Wenn wir
schon mit uns selbst ins Gespräch kommen, sollten wir alle
entscheidenden Begriffe nochmals neu in die Hand nehmen: Wohlstand,
Freiheit, Sicherheit. Gerade jetzt, nachdem wir die komplexe
Geschehenskette gemeinsam abgelaufen sind, fühlen sich diese Worte
wertvoll an.
Alles hat sich entwickelt,
ist erarbeitet, erkämpft,
manches auch erduldet und erlitten. Aber nichts ist garantiert. Der
Wohlstand ist so flüchtig wie die Freiheit zerbrechlich. Selbst die
Idee, die Geschichte besitze einen inneren Fortschritts- automatismus,
erwies sich, wie wir gesehen haben, als haltlose Schwärmerei.
Es geht
in alle nur denkbaren Richtungen weiter – nach unten, nach oben, und
seltener, als man glaubt, verbleibt eine Nation für längere Zeit auf
dem Hochplateau des Gegenwärtigen. Am besten geht es den Menschen dann,
wenn Wohlstand, Freiheit und Sicherheit wie bei einem Puzzle
ineinandergreifen.
Freiheit in Armut ist so
wenig verlockend wie ein
Wohlstand, der durch Unfreiheit erkauft wurde. Wahrscheinlich müssen
Karl Popper und Ludwig Erhard nacheinander gelesen, aber zusammen
gedacht werden.
Wohlstand, der mehr sein
will als die Anbetung von
Konsum, kann nur in der offenen Gesellschaft heimisch werden. Und diese
wiederum darf bei aller Sehnsucht nach Sicherheit ihre Beziehung zur
Freiheit nicht erkalten lassen.
»Wir müssen für die
Freiheit planen und
nicht für die Sicherheit«, sagte Popper. Und fügte sogleich hinzu:
»Wenn auch vielleicht aus keinem anderen Grund als dem, dass nur die
Freiheit die Sicherheit sichern kann.«
Freiheit lebt nicht von
andächtigen Bewunderern. Sie lebt von denen, die engagiert für sie
kämpfen.
Meine Damen und Herren, ich bedanke
mich für die
Aufmerk- samkeit.
Quellen: Redemanuskript der Friedrich
Naumannstifung
und
die eigene Veröffentlichung des Redners im Handelsblatt
In besser lesbare
Form gegliedert vom Herausgeber dieser Seite.